Verfasst von: Prof. Peter Reichl
Donnerstag 24. Februar 8:00 Uhr: Gleich in der Frühe rufe ich meine Mutter an und gratuliere, es ist ihr 80. Geburtstag. Wir sprechen herzlich miteinander. Nicht viel später sehe ich erste Meldungen: die Invasion der Ukraine hat begonnen. Nie hätte ich gedacht, dass dieser Tag, der so freudig begann, so schrecklich weitergeht. Die nächsten Stunden verbringe ich gebannt vor dem Fernsehschirm.
Samstag 26. Februar: Ich erhalte den Anruf eines Mitarbeiters, der mir aufgelöst von seiner ukrainischen Frau und deren Familie erzählt. Letztere ist auf der Flucht, und er ist Tag und Nacht mit Hilfe von Google Maps dabei, aus den Staus abzulesen, welche Straßen, und vor allem: welche Brücken noch passierbar sind. Ich stelle fest, wie breit der Dnjepr ist, und lerne viel über die Geographie Osteuropas. Um ihn aufzumuntern, biete ich ihm an, wir könnten doch eventuell hinfahren und die Familie abholen. Ungläubige Gegenfrage: Du würdest das tun?
Sonntag 27. Februar: Der Übergang über den Dnjepr ist geschafft und die Familie an der moldawi-schen Grenze – drei Stunden zu spät. Denn soeben wurde bekannt, dass Männer zwischen 18 und 60 nicht mehr rausdürfen. Auch mit Schleppern geht nichts mehr. Die Familie beschließt zusammenzu-bleiben. Ich biete nochmals an, am nächsten Tag hinzufahren, um zumindest den Schwiegervater und seine kleine Enkelin abholen können.
Mittwoch 2. März 11:00 Uhr: Das Telefon klingelt: „es geht los“ – wenigstens der Schwiegervater ist in Rumänien. Wir vereinbaren, auf keinen Fall EU-Territorium zu verlassen. Ich halte noch schnell ein Seminar, fahre heim und packe meine Sachen. Um 19:00h steht mein Mitarbeiter mit dem Auto vor der Tür – er hat noch schnell ein neues Pickerl gemacht.
Donnerstag 3. März 13:00 Uhr: Die Straßen waren frei, wir haben uns die Nacht am Steuer abge-wechselt und fahren auf ein kleines Dorf am östlichen Rand von Rumänien zu. Noch ein kleines Stück auf einem unbefestigten Feldweg, zwei Kurven, dann steht eine Familie am Straßenrand und winkt – sie haben unsere Reise über GPS verfolgen können. Wir steigen aus, ein weinender Mann fällt uns in die Arme – wir haben Yuri gefunden. Er ist allein.
Freitag 4. März: Die rumänische Familie, die Yuri aufgenommen hatte, organisiert uns ein Hotel in Botosani. Eigentlich sollte ich jetzt im Hörsaal stehen und meine StEOP-Vorle-sung eröffnen – Andreas, der Treueste der Treuen, springt ein. Wir verbringen den halben Tag damit, über Western Union Geld zu beschaffen, das wir der Familie für die weitere Flucht überlassen können. Von der Bank erfahren wir, dass wir gerne in 10 Tagen einen Termin haben können - Euros sind Mangelware in diesen Zeiten. Zurück im Hotel stehe ich an der Rezeption und beobachte eine vielleicht 19jährige Mutter, die völlig erschöpft in einen Sessel sinkt, in ihren Armen ein kleines Mädchen. Blicke treffen sich, das Kind ist still, verstört, apathisch. Es bricht mir das Herz.
Samstag 5. März 11:00h: Irgendwie hat es das Postamt geschafft, die Summe zusammenzukratzen, und gegen alle Pläne fahren wir jetzt doch nach Moldawien hinein. Es ist gespenstisch ruhig, kaum ein Auto auf der Straße. Gegen 15:00h sind wir am ukrainischen Grenzübergang – die letzten paar Meter führen genau an der Grenze entlang, wir müßten nur aussteigen und sind im Kriegsgebiet. Vier ukrainische Soldaten frieren in einem kleinen Unterstand vor sich hin und winken uns zu. Am Grenzübergang selbst warten Autos, Menschen kommen zu Fuß und werden abgeholt. Wir geben das Geld einem alten Mann mit, der es auf die andere Seite bringt. Mission accomplished. Dass wir bei der Rückfahrt heute noch 9 Stunden an der EU-Außengrenze warten müssen, ahnen wir nicht.
Sonntag 6. März 6:00 Uhr: Völlig übermüdet kommen wir in unserem liebgewonnenen Hotel an. Drei Stunden Halbschlaf, zwei starke Tassen Kaffee und die Fahrt geht weiter. Zum Glück haben wir das modernste GPS, das man sich vorstellen kann, leider stellt sich am Nachmittag heraus, dass irgendwie der Haken „Mautstrassen vermeiden“ angeklickt war – inzwischen kennen wir jedes Schlagloch in Nordrumänien persönlich. Abends zwei Stunden Warten an der ungarischen Grenze. Die ganze Bevölkerung des benachbarten Dorfes scheint auf den Beinen: wir werden mit heißer Suppe, Sandwiches und Schokolade versorgt, ich gebe umgekehrt meine letzte Packung Mozartkugeln her. Szenen der Verbrüderung.
Montag, 7. März 3:00 Uhr morgens: Zurück in Wien, hunderte Emails. Eine Studierende schreibt: „Diese Krise läßt mich schon die ganze Zeit wie auf heißen Kohlen sitzen, ohne wirklich zu wissen, wie man helfen kann.“ Ein anderer, in ganz anderer Sache: „… ich wollte auch fragen, ob Sie weiterhin Konzerte spielen und ob Sie bald eins planen. Ich habe nämlich Ihre Klavierstücke in TGI vor 4 Semestern genießen dürfen…“ Abends Vorlesung, ähnliche Reaktionen. Ein Gedanke keimt auf: ist nicht am Freitag Rektorstag?
Dienstag, 8. März 11:00h: Über Nacht hat die Idee, ein Benefizkonzert zu organisieren, Gestalt angenommen. Ich fange an herumzutelefonieren. Johannes ist wie immer sofort zur Stelle: der Carl Auer von Welsbach-Hörsaal wäre frei, und es gibt dort ja auch das legendäre Olaj-Klavier. Ich rufe meine Musikerkollegen in der Forschungsgruppe an: alle dabei. Die StV Informatik macht eh gerade eine Aussendung zum Thema Ukraine und fügt einen Aufruf an. Ein kurzer Anruf bei der OCG, und wir haben die Zusage für 1.000 EUR Sponsorengeld.
Mittwoch 9. März: Das Programm nimmt Fahrt auf, es haben sich noch weitere Studierende gemeldet, die beitragen wollen. Wir erstellen die Webseite cs4peace.at, am Nachmittag meldet sich Taras, der Pfarrer von St. Barbara, wo die Wiener Ukrainer*innen Hilfe für zu Hause organisieren, und ist an Bord. Auch die Fakultät steht dahinter, Gerald stuppst mich zu weiteren Schnorraktionen an und wird selbst aktiv: 1.000 Euro von SBA Research, 1.000 Euro vom VRVis und nochmal 1.000 Euro vom AIT. Ich verhandle mit der APA über die Bildrechte für unser Plakat: ein Sonder-Sonder-preis. Lisa vom STANDARD meldet sich – sie wird gerne einen Artikel machen. Die StV ist begeistert von der Idee, endlich den Weihnachtspunsch nachzuholen, und bringt gleich noch die Kolleg*innen von der Chemie ins Boot. Ein Wirbelwind beginnt.
Donnerstag, 10. März: Der Funke springt aufs Rektorat über, Rektor Engl sagt eine Grußbotschaft zu (leider wird sie 8 Minuten zu spät eintreffen, aber zum Glück springt Dekan Keppler aus der Chemie ein). Die Öffentlichkeitsarbeit übernimmt Plakaterstellung und Bewerbung, sogar ein Fotograf soll kommen. Am Nachmittag erfahre ich, dass das Klavier, auf das wir gesetzt haben, wohl in einem – naja, sagen wir mal: suboptimalen Zustand ist. Ich rufe unseren Freund Yoshi an – er ist kurz vor dem Abflug nach Japan, aber legt eine Extraschicht ein, um mit seinen Zauberhänden das Instrument auf-päppeln. Erste Proben.
Freitag, 11. März: So viele helfende Hände – ich empfinde nur noch Dankbarkeit. Den ganzen Tag renne ich zwischen Sensengasse und Boltzmanngasse hin und her. u:stream bockt und fällt schließ-lich ganz aus – irgendwie zaubern meine genialen Leute eine alternative Streaminglösung hin. Eine Stunde vor Beginn treffe ich auf der Straße zwei Gruppen von Publizistikstudierenden mit Kameras, die eine Übung absolvieren. Ich rufe den Leiter an, er ist sofort einverstanden, seine Trupps zu uns in den Hörsaal zu schicken und ein Feature über das Konzert zu drehen. Im Innenhof der Währinger Straße haben sich jede Menge Studierender versammelt, endlich ist der Punschkocher fertig und wir schleppen ihn hinunter. Im Trubel sind meine schwarzen Schuhe verlorengegangen – egal, spiele ich eben in meinen Alltagstretern. Dafür sieht meine Frau Marena einfach wundervoll aus in ihrem Konzertkleid.
Kurz nach sechs geht es los: „Casta Diva“ ist ein einziges Friedensgebet – es geht unter meine Haut wie selten. Ein Abend wie in Trance. Grußworte von Dekan Keppler, dann Renate als Vizedekanin der Informatik: sie rezitiert auswendig Conchita’s „Rise Like a Phoenix“. Das Publikum geht von der ersten Nummer an mit, von den Mitwirkenden übertrifft sich jede*r einzelne: die Kam-Sisters vierhändig am Klavier, Nina und Franz mit ihren Musicalnummern, bei Raphaels Queen-Cover tobt der Saal, Funky Michael an drei Gitarren, die Fünfe von Wööt singen zauberhaft wie nie, dann nochmal Oper, eine gemeinsame Zugabe (https://youtu.be/IecULB6BFVg) und zum Schluß ein bulgarisches Gutenachtlied. Um 23:00h geht der Punsch aus, was weiter passiert, entzieht sich meiner Kenntnis. In der Spendenbox zählen wir 2052,44 Euro – unfaßbar.